Leseproben

Winnetou

Der 1974 als Nachfolgeorganisation des Handball-Ausschusses (HBA) neu gegründete Schweizer Handball-Verband (SHV) begann sich in dieser Zeit neu zu orientieren. Dessen Zentralvorstand bekannte sich bald einstimmig zum Leistungssport, der sich in Westeuropa zunehmend vom reinen Freizeitsport abhob. Kurz darauf tat die SHV-Spitze einen entscheidenden Schritt: Sie verpflichtete 1976 Pero Janjic als neuen Nationaltrainer. Der Bosnier war damals erst 32 Jahre alt. Er hatte aber als Trainer bereits erstaunliche Erfolge mit Borac Banja Luka gefeiert, war dreimal jugoslawischer Meister sowie Sieger im Europacup der Landesmeister 1976 geworden. Seine Verpflichtung war für den SHV aber deshalb kein geringes Wagnis, weil schon einmal ein Mann aus dem kommunistischen Osteuropa in dieser Position kläglich gescheitert war. Das war 1969, als Irislav Dolenec als erster hauptamtlicher Nationaltrainer in der Geschichte des Schweizer Handballs engagiert wurde. Er hatte mit seinen auf professionelle, an Drill gewohnte Spieler ausgerichteten Methoden mit den Schweizer Amateuren schnell Schiffbruch erlitten.

Der neue Nationaltrainer hatte sein eigenes Prinzip, eine Mannschaft zu formen. Er bevorzugte grosse Spieler mit der einleuchtenden Begründung, es sei einfacher, grosse Spieler beweglich zu machen als bewegliche gross. Doch auch Janjic, ein Hüne von Gestalt und mit seinem gegerbten Gesicht entfernt an Winnetou erinnernd, vollbrachte vorerst keine Wunder. Seine Mannschaft stieg an der ersten B-WM 1977 unverzüglich wieder in die C-Gruppe ab. Nach einer deutlichen 16:24-Niederlage gegen die Tschechoslowakei und einem knappen 20:21-Niederlage gegen Bulgarien konnten Spieler und Trainer bereits wieder die Koffer packen.

Staunen in Moskau

Gegen 50 Handballfreundinnen und -freunde, eine Handvoll Journalisten und ein Werbefachmann, der seine eilends verkauften Reklametafeln mit im Gepäck führte, wollten vor Ort Zeugen sein, wenn mit Amicitia möglicherweise erstmals ein Schweizer Klubteam Europacup-Sieger würde. Zudem übertrugen viele westliche TV-Stationen dieses Spiel. Die Delegation staunte in der sowjetischen Hauptstadt nicht schlecht. Aber das hatte vorerst wenig mit sportlichen Leistungen zu tun. Da nahm sich doch die einheimische Begleiterin tatsächlich die Freiheit, auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt von den «Bausünden der Breschnew-Ära» zu sprechen, als eintönige, muffige Mietskasernen ins Blickfeld kamen. Erst allmählich begannen wir zu ahnen, dass die Perestroika eines gewissen Michail Gorbatschow, von der in unseren Zeitungen seit einigen Monaten zu lesen war, in diesem Riesenreich etwas zu bewegen begonnen hatte.

Wir staunten ein zweites Mal, als wir das über 5000 Personen fassende Stadion betraten. Es war nämlich entgegen unseren Erwartungen zu zwei Dritteln leer – keine passende Kulisse für einen Europacup-Final! Später liess ich mir sagen, das sei so bei allen Armeemannschaften des (damaligen) Ostblocks, denn die seien im Volk alles andere als beliebt.